Was ist eigentlich aus Aschenputtel geworden? Märchenerzähler machen es sich leicht. Sie hören immer dann auf, wenn es kompliziert zu werden droht. Ich würde zu gern wissen, was aus Aschenputtel geworden ist.

Was wurde aus dem Mädchen, dem man von klein auf eingetrichtert hat, dass es nichts wert sei?

Was wurde aus diesem Kind, das ausgeschlossen, ausgelacht, gemobbt und schlecht behandelt wurde? Genügt es, einen Prinzen zu heiraten, damit aus dem Aschenputtel eine glückliche selbstbewusste zufriedene Prinzessin wird?

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Heute, liebe Damen, erzähle ich euch den zweiten Teil von Aschenputtels Geschichte. Den Teil, den man unbedingt kennen sollte, weil er für uns viel wichtiger ist als die romantischen Verwicklungen aus Aschenputtels Jugend.

Als der Prinz also seine Herzsenfrau abholt, muss er nicht lang warten. Aschenputtel besitzt nicht viel. So dauert es nicht lang, bis sie alles eingepackt hat – die paar Lumpen und … alle ihre Glaubenssätze und Vorstellungen darüber, wer sie ist. Noch vor dem Altar sollte sie den Prinzen argwöhnisch beäugen, überzeugt davon, dass es sich nur um einen schrecklichen Irrtum handeln konnte. Gleich wird er seinen Irrtum entdecken und sie verlassen. Spätestens wenn er erkennt, dass sie wirklich nur Aschenputtel ist und dieses wunderschöne Kleid nur an jenem schicksalhaften Abend getragen hat. Er hat sich gewiss in das Kleid verliebt, nicht in sie. Er kann unmöglich sie meinen.

Andere glücklich machen und sich selbst vernachlässigen – das kann sie doch am besten.

Aschenputtel wird es nicht schaffen, neben ihm sie selbst zu sein. Gut, dass sie es zu Hause jahrelang üben durfte, anderen ihre Wünsche von den Augen abzulesen. Sie wird immer wissen, was der Prinz wünscht, noch bevor er es sagt. Sie wird die perfekte Frau sein und jeden Tag versuchen, ihn glücklich zu machen. Denn das kann Aschenputtel am besten – andere glücklich machen und sich selbst vernachlässigen.

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Liebe und Zuneigung kennt sie nicht anders als dass man sie sich verdienen muss. Egal mit wie viel liebevoller Aufmerksamkeit der Prinz sie beschenken  möchte, sie kann sie nicht nehmen. Sie will diejenige sein, die gibt. Gebraucht zu werden gibt ihr Sicherheit.

Sie hat nie gelernt, sich zu entspannen und es nett zu haben.

Sie zieht dieses Programm nicht nur mit ihrem Prinzen durch. Auch von ihren Untertanen und den vielen Dienern kann sie nichts nehmen. Sie fühlt sich unzufrieden, ohne sagen zu können warum. Überall sucht sie das Haar in der Suppe. Alle Arbeiten reißt sie an sich, überzeugt davon, dass niemand sie so erledigen kann wie sie selbst.  Hinter dem, was ihren Dienern als mangelnde Wertschätzung sauer aufstößt, steckt in Wirklichkeit aber Aschenputtels Unfähigkeit, nicht zu arbeiten. Sie hat nie gelernt, sich zu entspannen und es nett zu haben. Ihre Kreativität arbeitet unbewusst auf Hochtouren, um Gründe zu erfinden, warum sie keine Ruhe geben kann. Nicht genießen kann. Sich nicht entspannen kann. Wenn sie nicht arbeitet oder für irgendjemanden sorgt, weiß sie nicht, was sie mit sich anfangen soll. Entspannt sie sich kurz, bekommt sie Schuldgefühle.

Nichts fürchtet Aschenputtel so wie Spott und Häme.

Kaum eine ihrer zahlreichen Ideen setzt sie um. Sie fürchtet Spott und Häme. Lieber beschäftigt sie sich mit Nichtigkeiten.

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Obwohl es so Dinge gäbe, die sie liebend gern umsetzen würde und theoretisch könnte sie ja auch, aber… sofort hört sie im Geist das Gelächter ihrer Stiefmutter und der Stiefschwestern. „Wer bin ich schon“, denkt sie dann resigniert. „Ich bin schließlich nur das Aschenputtel“. Sie weiß, sie würde es nicht ertragen, sich dem Spott nochmal dermaßen auszusetzen. So ist sie zwar ununterbrochen beschäftigt, aber ohne etwas Nennenswertes zu machen.

Dienen und Geben.

Sie konzentriert sich umso mehr aufs Dienen und Geben. Allein schon deswegen, weil sie immer etwas tun muss. Diese Unfähigkeit, sich zu entspannen, erzeugt immer neue Aufgaben vor ihren Augen.

Sie merkt nicht, wie sie den Prinzen nach und nach zur Faulheit erzieht. Wie er langsam aber sicher den Respekt vor ihr verliert und ihre Liebe für selbstverständlich nimmt. Dass er sich langsam angewöhnt, den Stress des Tages an ihr auszulassen. Wie unbemerkt sie ihn in ihr altes Muster hinein verführt, das ihr ureigenes ist – tyrannisiert zu werden.

Mach mich zum Opfer, Liebster.

Gemeinsam spielen sie nun das Spiel „der unterkühlte Herrscher und die liebessüchtige Klette“. Sie wechseln es ab mit dem Spiel „tue mir weh, damit ich leiden kann“. Denn wenn der Prinz sie verletzt, macht sich dieses altvertraute Gefühl in ihr breit: ich bin ein Opfer. Dieses Leiden an einer kranken Beziehung ist wie zu Hause anzukommen. Sie würde es nie zugeben, aber es ist ihr vertrauter als irgendein anderes Lebensgefühl.

Zu nett für diese Welt?

Ich denke, das würde in den ersten Jahren im Schloss vor sich gehen.

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Sie würde sich oft wundern, warum ihr das immer passiert, sie ist doch ein guter Mensch. Sie würde herumgehen und Dinge sagen wie „mein einziger Fehler ist, dass ich zu nett bin. Ich werde immer ausgenützt“. Sie würde sich viele Fragen stellen und möglicherweise depressiv werden. Denn ungelebtes Leben drückt schwer auf der Seele. Die Unfähigkeit, ein „Ich“ in einem „Wir“ zu integrieren, fährt jede Beziehung irgendwann an die Wand.

Gehe und begegne dir selbst.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Tauben, die ihr einst zu ihrem wunderschönen Ballkleid verholfen haben, ihr auch diesmal aus der Patsche helfen. Dass sie eines Nachts Aschenputtels leblose Einsamkeit unterbrechen und ihr sagen: „Du musst herausfinden, wer du bist, wenn niemand da ist, dem du dienen kannst.“ Aschenputtel würde vielleicht aufbegehren, denn sie versucht ja nur, ein frommer und guter Mensch zu sein wie ihre verstorbene Mutter. Aber die Tauben bleiben unerbittlich. „Gehe und begegne dir selbst!“

Das ist natürlich fast ein Ding der Unmöglichkeit für jemanden, der wie Aschenputtel aufgewachsen ist. Für jemanden, der für sich selbst längst unsichtbar geworden ist. So sagen die Tauben noch zärtlich: „Kehre zum Ursprung zurück, dort findest du alle Antworten.“

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Aschenputtel hat keine Ahnung, was die Tauben mit Ursprung meinen. Gedankenverloren geistert sie durch das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, bis sie plötzlich vor dem Grab ihrer Mutter steht. Ein heftiger Schmerz erfasst ihr Herz und sie will wieder gehen. Da ertönt nochmal die Stimme der Tauben in ihrem Ohr: „Wenn du den Schmerz aushältst, wird sich alles wandeln.“

Die eigene Unschuld und Verantwortung erkennen.

Der Schmerz brennt wie Feuer. Aschenputtel fürchtet, dass sie verrückt wird in seinen Flammen. Erst als sie den Widerstand aufgibt und sich ganz dem reinigenden Feuer hingibt, lässt der Schmerz wieder nach und lässt ihren Körper mit einem noch nie da gewesenen Gefühl zurück. Entspannt weich und kraftvoll zugleich fühlt sich Aschenputtel. Erkenntnis und Liebe erfüllen sie. In aller Klarheit sieht sie nun ihr Leben, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre Unschuld und ihre Verantwortung. In aller Klarheit hat sie sich selbst zum ersten Mal erblickt. Ihre Bedürftigkeit, die sie andauernd auf andere projiziert. Das ihr angetane Leid und Unrecht, das bis heute ihre Ängste befeuert. Sie sieht sich als Kind und sie sieht sich als Frau und kann nun beides voneinander unterscheiden. Sie erkennt ihre Chancen und ihre Freiheiten. Sie erkennt, dass nur sie selbst sich die Erlaubnis zum Glücklichsein geben kann.

In diesem schmerzhaften Moment, in diesen Flammen am Grab ihrer Mutter, liest sie seelisch Linsen aus der Asche, fischt sie ihre Gaben aus dem seelischen Müll.

Ist das Innere intakt, gibt es im Außen nichts zu verlieren.

Sie ist nicht dieselbe, als sie nach Hause spaziert. Und sie weiß, dass ihre Ehe nun an ihrem Wachstum entweder zerbricht oder besser wird. Aber sich zu spüren, bei sich zu sein, ist das Risiko wert. Solange das Innere intakt ist, gibt es im Außen nichts zu verlieren.

Ihre Verwandlung entgeht dem Prinzen nicht. Das erwachende Selbstbewusstsein seiner Frau fällt auf und die Lebendigkeit, die sie ausstrahlt, zieht ihn in ihren Bann. Aus der leblosen Dienerin ist eine Frau mit Ecken und Kanten geworden. Eine, mit der man vom Herzen lachen und streiten kann, eine, die man begehren und manchmal auch ein bisschen fürchten darf. Eine Frau mit gesunden Grenzen. Wie gut ihr die Krone plötzlich steht!

Wenn die eigene Lebendigkeit mehr zählt als die Zuneigung der anderen.

Aschenputtel lächelt in sich hinein. Sie freut sich über die neu erwachte Liebe ihres Mannes, hat aber gleich viel Freude an sich selbst. Vorbei sind die Zeiten, wo sie die Zuneigung der Außenwelt wie ein Junkie gebraucht hat. Die Quelle sprudelt nun in ihrem Inneren. Sie hat aufgehört, ihre eigene Bedürftigkeit zu verleugnen und angefangen, gut für sich zu sorgen. Sie fragt um Hilfe oder eine Umarmung, wenn sie sie braucht.

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Mutig und zuversichtlich setzt sie ihre Ideen in Taten um und hat keine Angst vor den eigenen Fehlern. Keine Angst, es anders zu machen als ihre Mutter. Sie scheut es nicht, Ansprüche zu stellen. Aschenputtel ist ein selbstbestimmter freier Mensch geworden und fängt jetzt eine neue Beziehung zu ihrem Ehemann und ihrer Umwelt an. Eine, in der sie sich nicht mehr verlieren wird. Eine, in der ihre eigene Lebendigkeit mehr zählt als die Zuneigung der anderen.

Und jetzt erst, liebe Märchenerzähler, dürft ihr sagen: Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage!!!